Presseerklärung des BVerfG

Die Urteilsbegründung (115-seitig)

Wichtige Fragen zur Sterbehilfe

Strafgesetzbuch (StGB)

§ 217 Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung

(1) Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Als Teilnehmer bleibt straffrei, wer selbst nicht geschäftsmäßig handelt und entweder Angehöriger des in Absatz 1 genannten anderen ist oder diesem nahe steht.

Bericht aus Karlsruhe: Lothar Fietzek war am 26. Februar 2020 zur Urteilsverkündung des Bundesverfassungsgerichtes vor Ort in Karlsruhe. Nachfolgend sein Bericht und eine Einschätzung zu den Konsequenzen, die aus dem Urteil zu ziehen sind. Siehe hierzu auch den der Broschüre entnommenem Beitrag „Wichtige Fragen zur Sterbehilfe“, insbesondere Punkt unter „3. Beihilfe zur Selbsttötung“.

Das Bundesverfassungsgericht erlaubt Sterbehilfe

Schwerkranke sterbenswillige Patienten, Sterbehilfe-Vereine, Palliativ-Ärzte und Rechtsanwälte hatten beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde gegen den seit De zember 2015 geltenden § 217 Strafgesetzbuch (StGB) Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung, eingelegt.

§ 217 StGB ist verfassungswidrig. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat am 26.2.2020 den § 217 für verfassungswidrig erklärt. Damit ist er nichtig und die seit Einrichtung des Strafgesetzbuches 1871 bis 2015 bestehende Rechtslage wieder hergestellt. Da das Thema Sterbehilfe nicht nur existenzielle Grundfragen menschlichen Daseins betreffe, son dern an Grundfesten in der Gesellschaft anzutreffender ethischer, moralischer und religiöser Einstellungen rühre, sei es wichtig zu betonen, so Präsident Voßkuhle, dass der Senat nicht über diese Überzeugungen zu urteilen hatte. Aufgabe war ausschließlich, die Verfassungsmäßigkeit des § 217 StGB zu prüfen.

Ein Urteil von fundamentaler Tragweite. Für einen der Beschwerdeführer, Rechtsanwalt Putz, einen renommierten Patientenanwalt, ist es «das bedeutendste Urteil des BVerfG zu den Menschenrechten seit Bestehen dieses Gerichts.» – Der 2. Senat urteilte, dass das «Allgemeine Persönlichkeitsrecht» (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz) als Ausdruck persönlicher Autonomie ein «Recht auf selbstbestimmtes Sterben» umfasse. Dieses Recht schließe die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen, hierfür die «Hilfe Dritter zu suchen» und, «soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen». Dieses Recht bestehe «in jeder Phase der menschlichen Existenz» und gelte nicht nur für unheilbar kranke Menschen. Wenn ein Einzelner sich «entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz» entscheide, sein Leben zu beenden, so bedarf dies keiner weiteren Begründung und Rechtfertigung. «Staat und Gesellschaft müssen diesen Akt autonomer Selbstbestimmung respektieren.»

Freiheitsgewährleistungen des Grundgesetzes verletzt. Der § 217 greift durch das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung unverhältnismäßig in das «Recht auf selbstbestimmtes Sterben» ein. Der Einzelne ist ohne die geschäftsmäßigen Angebote von Sterbehilfevereinen einzig «auf die individuelle Bereitschaft eines Arztes angewiesen», zumindest «durch Verschreibung des Wirkstoffes assistierend an der Selbsttötung mitzuwirken.» Ärzte zeigen im Allgemeinen aber keine Bereitschaft Suizidhilfe zu leisten. Und auch Ärzte, die vor dem § 217 Suizidhilfe leisteten, tun dies nicht mehr, da sie eine Strafverfolgung wegen geschäftsmäßigem Handeln befürchten. (Geschäftsmäßiges Handeln meint ein auf Wiederholung angelegtes Handeln; Geld braucht nicht zu fließen.) Daneben verletzt der § 217 auch «Grundrechte von Personen und Vereinigungen die Suizidhilfe leisten möchten», da sie ebenfalls verfassungsrechtlichen Schutz genießen. Das Recht auf Selbsttötung korrespondiert mit den Grundrechten von Suizidhilfe leistenden Personen und Vereinigungen. Die Entscheidung zum Suizid ist nur dann umsetzbar, wenn Dritte, die «die Gelegenheit zur Selbsttötung gewähren, verschaffen oder vermitteln», dies rechtlich tun dürfen. Die, die zur Suizidhilfe bereit sind, müssen ihre Bereitschaft auch rechtlich gesichert umsetzen können. Da keine hinreichenden Alternativen zu diesen Sterbehelfern vorhanden sind, ist das Recht auf selbstbestimmtes Sterben entleert. Dies korrigiert das Urteil. Die Sterbehilfeorganisationen können ihre Arbeit wieder aufnehmen.

Schutzanliegen des Staates. Die Absicht des Parlaments, mit dem Verbot geschäftsmäßiger Suizidhilfe Ziele des Autonomie- und Lebensschutzes und der Gefahrenabwehr strafrechtlich zu verfolgen, ist legitim. Allerdings muss der Gesetzgeber sich bei Regelungen zur Suizidhilfe «an der Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen ausrichten, das darauf angelegt ist, sich in Freiheit selbst zu bestimmen und zu entfalten.» Dies verwehre § 217 StGB; daher ist er nichtig. In Bezug auf die organisierte Suizidhilfe steht dem Staat dennoch ein breites Spektrum an Möglichkeiten offen, wie eine Beratungslösung, Wartefristen, Erlaubnisvorbehalte und Zuverlässigkeitsprüfungen. Auch können je nach Lebenssituation unterschiedliche Anforderungen an den Nachweis der Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit eines Selbsttötungswillens gestellt werden. Auch eine Liberalisierung des Betäubungsmittelgesetzes ist denkbar.

Die Ärzte sind gefordert. Die Berufsordnungen der Landesärztekammern sind völlig unterschiedlich. Z. B. wird in zehn von siebzehn die ärztliche Suizidhilfe verboten. Damit wird die Berufsfreiheit und Gewissensfreiheit der Ärzte eingeschränkt. Aus alldem und dem Urteil folgt, dass das Berufsrecht der Ärzte einer dringlichen und grundlegenden Reformierung bedarf. Vielleicht wagen sich nun auch mehr Ärzte aus der Deckung, die bisher, aus Furcht vor strafrechtlichen Konsequenzen, von einer Suizidassistenz absahen. Davon wird auch wesentlich abhängen, inwieweit die Sterbehilfeorganisationen an Zuspruch hinzu gewinnen werden.

Zur Nutzung freigegeben. © Lothar Fietzek Verlag 2020 Berlin | Impressum | Datenschutzerklärung